Die Tauren
Die Nebel der DämmerungVor dem Zeitalter der Erinnerung atmete die gütige Erdenmutter auf die goldenen Nebelschleier der Morgenröte. Wo die bernsteinfarbenen Wolken sich niedersenkten, entstanden endlose wogende Felder von Weizen und Gerste. Das war das Füllhorn ihres Wirkens - der große Korb des Lebens und der Hoffnung.
Die Augen der Erdenmutter lächelten auf das Land, dem sie das Leben eingehaucht. Ihr rechtes Auge, An'she (die Sonne), spendete dem Land Licht und Wärme. Ihr linkes Auge, Mu'sha (der Mond), erfüllte die ruhelosen Kreaturen der Dämmerung mit Frieden und Schlaf. So groß war die Macht ihres Blickes, dass die Erdenmutter mit jeder Drehung des Himmels eines ihrer träumenden Augen schloss. Auf diese Weise verwandelte ihr liebevoller Blick den Tag zur Nacht, und die erste Dämmerung war da.
Als das rechte Auge die güldene Morgenröte beschien, breitete die Erdenmutter ihre sanften Hände über die schimmernden Ebenen. Wo der Schatten ihrer Arme auf die reiche Erde fiel, erhob sich ein edles Volk. Die Shu'halo (die Tauren) erhoben sich, um ihrer liebenden Mutter zu danken und ihr ihre Gebete zu schenken. Dort, in den endlosen Feldern der Dämmerung, schworen die Kinder der Erde ihre Treue und versprachen, bis zur letzten Verdunkelung der Welt ihren Namen zu preisen.
Trauer der Erdenmutter
Als die Kinder der Erde durch die Felder der Dämmerung streiften, lauschten sie dem dunklen Flüstern aus den Tiefen der Erde. Das Flüstern erzählte den Kindern von der Kunst des Krieges und des Verrats. Viele der Shu'halo ließen sich von den Worten des Schattens verführen und wandten sich der Bosheit und Verschlagenheit zu. Sie stellten sich gegen ihre unverdorbenen Brüder, auf dass sich ihre Unschuld langsam in den weiten Ebenen ihres Landes verlor.
Erdenmutter, deren Herz schwer war ob der Not ihrer Kinder, konnte es nicht ertragen mit anzusehen, wie sie vom geraden Wege abfielen. In ihrem Kummer riss sie sich die Augen aus und warf sie in den Himmel, wo sie noch heute am endlosen, sternenübersäten Firmament dahinziehen. An'she und Mu'sha wollten die Trauer des jeweils anderen lindern, konnten jedoch immer nur dem schwachen Schein des anderen am fernen Himmel folgen. Noch heute haschen sich die Zwillinge mit jeder Umdrehung der Erde.
Der weiße Hirsch und der Mond
Obwohl sie blind war, konnte die Erdenmutter sich doch nicht lang von der Welt ihres Herzens abwenden. Sie lauschte den Winden und hörte alles, was von den Feldern der Dämmerung an ihr Ohr getragen wurde. Ihr großes Herz war immer bei ihren Kindern - und ihre liebende Weisheit hat sie nie verlassen.
Die Erdenmutter erfüllte die mutigen Herzen ihrer reinen Kinder mit der Liebe zur Jagd. Denn die Kreaturen der ersten Dämmerung waren wild und gefährlich. Sie verbargen sich vor der Erdenmutter, suchten Zuflucht in den Schatten und an den rauen Orten des Landes. Die Shu'halo jagten diese Bestien, wo immer sie sich auch versteckten, und zähmten sie mit dem Segen der Erdenmutter.
Einer der großen Geister entzog sich ihnen jedoch. Apa'ro (unter den Nachtelfen als Malorne bekannt) war ein stattlicher Hirsch mit schneeweißem Fell. Sein Geweih stieß bis ans Himmelszelt und das Stampfen seiner mächtigen Hufe war selbst bis in die tiefsten Tiefen der Erde zu vernehmen. Die Shu'halo trieben Apa'ro in einen Winkel der erwachenden Welt - und zogen die Schlinge enger, um den stolzen Hirsch zu fangen.
Der große Hirsch versuchte zu entkommen und sprang hinauf in den Himmel. Doch als seine Flucht schon geglückt schien, verfing sich sein mächtiges Geweih in den Sternen und kam nicht mehr los. So sehr er auch kämpfte und um sich trat, konnte Apa'ro sich doch nicht aus dem Firmament befreien. Dort fand ihn Mu'sha, als sie ihrem Bruder An'she zur Dämmerung folgte. Mu'sha sah den mächtigen Hirsch kämpfen und verliebte sich auf der Stelle in ihn.
Mu'sha schloss einen Handel mit dem großen Hirsch ab - sie würde ihn aus den Fesseln der Sterne befreien, wenn er sie lieben und ihre Einsamkeit beenden würde.
Mu'sha liebte Apa'ro und empfing ein Kind von ihm. Das Kind, ein Halbgott, wie manche behaupteten, wurde in den schattigen Wäldern der Nacht geboren. Sie nannten es Cenarius, und er wandelte auf dem Sternenpfad zwischen der erwachenden Welt und dem Königreich des Himmels.
Der Waldlord und die ersten Druiden
Mit der Zeit wuchs Cenarius heran und seine Statur war so stattlich wie die seines stolzen Vaters. Der große Jäger war den Bäumen und auch den Sternen wie ein Bruder, er streifte durch die weite Welt und sang die harmonischen Lieder der Dämmerung. Alle Kreaturen verneigten sich vor seiner Anmut und Schönheit - niemand war so klug wie der Sohn des Mondes und des weißen Hirschs.
Irgendwann freundete sich Cenarius mit den Shu'halo an und erzählte ihnen von der Welt, die sich drehte. Die Kinder der Erde erkannten ihn als Bruder und schworen, ihm dabei zu helfen, die Felder des Lebens zu bestellen und für die Lieblingskreaturen ihrer großen Erdenmutter zu sorgen.
Cenarius brachte den Kindern der Erde die Sprache der Bäume und Pflanzen bei. Die Shu'halo wurden zu Druiden und vollbrachten große magische Taten, um das Land wieder gesund zu pflegen. Über viele Generationen jagten die Shu'halo an Cenarius' Seite und beschützten die Welt vor den Schatten, die sich unter ihnen regten.
Der Hass der Zentauren
Als die Nebel der Dämmerung verflogen und das Zeitalter der Erinnerung voranschritt, zog der Halbgott Cenarius seiner eigenen Wege auf den Feldern der Welt. Die Shu'halo waren traurig, weil er fortging, und vergaßen viel von dem Druidenwissen, das er sie gelehrt hatte. Im Lauf der Generationen vergaßen sie auch die Sprache der Bäume und der wilden Kreaturen des Landes. Das dunkle Flüstern aus den Tiefen der Welt drang erneut an ihr Ohr.
Obwohl die Kinder der Erde nicht auf das böse Flüstern hörten, befiel ein schrecklicher Fluch die umherziehenden Stämme. Aus den schwarzen Landen im Westen kam eine Horde mörderischer Kreaturen - die Zentauren. Die Zentauren, Kannibalen und Verheerer, fielen wie eine Seuche über die Shu'halo her. Die Kriegerhelden und die Jäger kämpften mit dem Segen der Erdenmutter in ihren Herzen, aber sie konnten die Zentauren nicht besiegen.
Die Shu'halo waren gezwungen, das Land ihrer Vorfahren zu verlassen und von da an bis in alle Zeit als Nomaden durch die endlosen Ebenen zu ziehen. Mag sein, dass eines Tages die Hoffnung zurückkehrt - und dass die verstreuten Stämme der Shu'halo irgendwann eine neue Heimat in den liebenden Armen der Erdenmutter finden.