Kea

Angemeldet seit: 23.06.2011
Beiträge: 37
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Das war mal ein Artikel für eine Online-Zeitschrift, die es aber nicht mehr gibt.
Die Anderen
Langsam laufe ich die Straße entlang, kuschle mich enger in meinen dicken Filzumhang. Die Menschen, die mir begegnen, laufen schnell an mir vorbei und werfen mir misstrauische Blicke zu. Es scheint verboten zu sein, sich der Außenwelt zu zeigen, wenn man so blass ist wie ich. Meine Haut gleicht einer weißen Rose, so hell ist sie. Im Gegensatz dazu stehen meine dunklen, fast schwarzen Augen unter den langen, schwarzen Haaren. Ich selbst sehe mich selten im Spiegel, eigentlich nie. In unserem Haus gibt es keine; und wenn es doch einen gibt, dann ist er mit einem alten, staubigen Tuch verhängt. Keiner in meiner Familie sieht in einen Spiegel. Wir wissen, wie wir aussehen. Blass, groß, mit dunklen Augen und feinen Gesichtszügen. Für die Menschen müssen wir aussehen wie Wesen aus einer anderen Welt, so fremdartig und gleichzeitig schön. Das hat einmal ein alter Mann zu mir gesagt, vor vielen Jahren.
Ich bin auf dem Weg zu meiner Freundin Victoria. Sie hat mich zum Essen eingeladen. Da sie ungefähr eine Tagesreise von mir entfernt wohnt, habe ich beschlossen, ein paar Tage bei ihr zu bleiben. In diesem Jahrhundert ist das Reisen so beschwerlich. Nur die Reichen können es sich leisten, mit der Eisenbahn zu fahren. Ich könnte es theoretisch auch, doch ich meide große Menschenmassen schon von Natur aus. Vor ein paar Jahren, dreihundert um genau zu sein, ist mir ein kleines Missgeschick passiert, als ich bei einer Hexenverbrennung zugesehen habe. Mein Durst hat mich überrannt und ich konnte den gespannt auf das große Feuer starrenden Menschen nicht widerstehen. Nur mit großer Not gelang es mir, der Inquisition zu entfliehen und mich in einem anderen Land abzusetzen. Ich floh von Deutschland nach England. Es war eine beschwerliche Reise. Aber mittlerweile lebe ich seit fast dreihundert Jahren in England. Dort zog ich alle paar Jahre von einem Ort zum nächsten und änderte meinen Namen. Vor gut einhundert Jahren fand ich ein paar Gleichgesinnte, die in einem alten Herrenhaus lebten. Ich wurde dort aufgenommen und lebe seitdem dort, in der Nähe von London. Victoria residiert im Moment in Manchester. Zwar könnte ich die Strecke innerhalb einer Nacht überwinden, doch ich habe mir vorgenommen, mich so menschenähnlich wie möglich zu verhalten. Daher hatte ich mir eine Kutsche gemietet und laufe nun die restlichen Meter zu der großen, anmutigen Villa, die Victoria ihr Zuhause nennt.
Anders als es vielleicht bei den meisten meiner Art wäre, werde ich von meiner Freundin herzlich empfangen. "Elizabeth! Wie schön ich wiederzusehen!" Sie schließt mich in die Arme und drückt mich an sich. Ihr Haut ist genauso kühl und weiß wie die meine, ihre Augen haben einen leichten, dunkelroten Schimmer. Sie hat Durst. "Du hast doch nicht schon wieder auf mich gewartet, oder?" frage ich lächelnd. Sie nickt. "Doch, habe ich. Diesmal habe ich etwas besonders knackiges. Das wollte ich nicht alleine anbrechen.“ Sie hat ein Leuchten in den Augen. Diesmal hat sie wohl wirklich etwas knackiges gefunden. Den anderen, wie wir die Menschen nennen, jagt unsere Lebensweise Angst ein. Man sieht uns erst in der Abenddämmerung auf den Straßen, weil wir das Sonnenlicht nicht mögen, teilweise auch nicht vertragen. Ich habe schon von Fällen gehört, bei denen manche von uns im Sonnenlicht verbrannt sind. Sie waren wohl wirklich sehr empfindlich.
Victoria zieht mich an der Hand hinter sich her in das große, helle Esszimmer. Ihr Fang sitzt auf einem bequemen Stuhl. An den Händen ist er gefesselt. „Ein wirklich hübsches Exemplar, was du dir da geangelt hast. Wie heißt er denn?“ frage ich, während ich um den Stuhl herumgehe und unser Mahl mustere. „Er heißt Calvin.“ Victorias Augen fangen an, blutrot zu leuchten. Auch ich spüre, wie es in mir erwacht. „Nun Calvin, ich hoffe, du hast dein Leben genossen“, flüstere ich ihm ins Ohr, kurz bevor ich zärtlich an seinem Hals knabbere. Calvin läuft leichenblass an. Pure Angst steht in seinen Augen. Ich schaue Victoria auffordernd an. Sie lächelt. „Der ist für dich. Ich habe einen eigenen.“ Ihr Diener bringt noch einen jungen Mann ins Zimmer. Auch dieser sieht nicht schlecht aus. „Oh, das ist sehr aufmerksam von dir. Wie komme ich zu der Ehre?“ frage ich, während ich meine Fingernägel in Calvins Schulter kralle. „Willst du mir etwa sagen, dass du deinen Geburtstag schon wieder vergessen hast?“ Victoria lacht schallend, bevor sie sich über ihren Mann hermacht. Auch ich beschäftige mich nun näher mit dem meinen. Leise lächelnd lasse ich mich auf seinem Schoß nieder, drücke seinen Kopf zur Seite und knabbere wieder an seinem Hals. Seine Halsschlagader pocht verführerisch unter meinen Lippen. Ich kann nicht anders und bohre meine Zähne in sein weiches Fleisch, genieße es, wie das warme Blut in meinen Mund läuft.
Nach unserem „Abendessen“ sitzen wir in den großen, bequemen Ohrensesseln vor dem Kamin und lassen und vom Feuer wärmen. Ich sehe es ihr an, dass sie ganz begierig darauf ist, etwas aus meinem Leben zu erfahren. Wie will man es ihr auch verübeln? Victoria ist erst einhundertfünfzig Jahre alt und hat noch nicht so viel erlebt wie ich. „Liz, erzählst du mir nun endlich, wie du erschaffen wurdest? Du versprichst es mit jedes Mal uns tust es dann doch nicht.“ Victoria zieht einen Schmollmund, so dass ich lachen muss. „Ich weiß, dass ich es schon so oft versprochen habe. Aber, um ehrlich zu sein, weiß ich nicht mehr alles. Es liegt ja mittlerweile vierhundert Jahre her.“ Ich seufze auf, als ich Victorias wissbegierigen Blick sehe und gebe mich geschlagen. „Also gut. Ich erzähle die meine Geschichte.“ Bevor ich los lege, mache ich noch eine kurze Pause, nehme einen Schluck aus dem Weinglas, das neben mir auf dem zarten Glastisch steht. Die dunkelrote Flüssigkeit könnte Wein sein, jedoch ist es das Blut einer Jungfrau, das schmecke ich sofort heraus. Jungfräuliches Blut schmeckt einfach am besten. „Es war im Jahre 1413 ich war gerade 20 geworden, als mein Heimatdorf von einer Horde Wilder überrannt und niedergemetzelt wurde. Ich selbst wurde auch nicht verschont, starb aber nicht gleich. Ich lag fast den ganzen Tag da und hatte schreckliche Schmerzen. Ich dachte, dass alles Knochen in meinem Körper gebrochen sein mussten. Irgendwann, als es dunkel wurde, sah ich, wie ein Schatten durchs Dorf glitt. Zuerst dachte ich, es sei einer der Wilden, der zurückgekommen war, um noch einmal Beute zu machen. Doch es war nicht so. Es war kein Mensch, das spürte ich. Es war irgendetwas anderes. Und es muss bemerkt haben, dass ich noch nicht tot war, denn es kam auf mich zu. Außer einem langen, schwarzen Umhang sah ich nicht viel. Das Gesicht lag im Schatten der Kapuze, doch ein paar leuchten rote Augen starrte mich an. Ich hatte Angst, tierische Angst. Was war dieses Wesen? Es kam auf mich zu und ehe ich mich versah, lag ich in seinen Armen und spürte einen stechenden Schmerz am Hals. Es hatte mich gebissen. Durch meine Verletzungen hatte ich schon sehr viel Blut verloren, und dass das Wesen an mir saugte, machte es nicht gerade besser. Mir wurde schwarz vor Augen und ich verlor das Bewusstsein.“ Für einen Moment halte ich mit meiner Erzählung inne und mustere Victoria. Bei ihr war die Verwandlung etwas anderes gewesen. Sie wollte es, da sie einen von uns geliebt hatte. Er hatte sie in der Hochzeitsnacht verwandelt. Leider hatte die Ehe nicht lange gehalten, da er als Hexer beschuldigt und verbrannt wurde. Aus diesem Grund war Victoria nach Manchester gegangen. Nun schaut sie mich an. „Was passierte dann?“, fragt sie neugierig. Meine Lebensgeschichte muss ihr wohl wie ein romantisches Abenteuer vorkommen, dabei war es alles andere als romantisch, damit fertig zu werden, dass man kein Mensch mehr war, sondern ein Wesen, dass in den Augen der Menschen ein Dämon ist. „Ich weiß nicht, was geschah, nachdem ich ohnmächtig wurde. Ich wachte irgendwann auf und lag in einem einfachen Bett. Er hat mich wohl mitgenommen. Was genau mit mir geschehen war, erkannte ich erst im Laufe der Zeit, als er mich 'ausbildete', mir zeigte, wie ich am geschicktesten jage und wie man sich vor den Menschen versteckt. Ach lehrte er mich, wie man Menschen zu unseresgleichen macht. Jedoch verließ er mich nach einiger Zeit. Er war ein Einzelgänger. Ich habe seit dem auch nie wieder etwas von ihm gehört. Und den Rest der Geschichte kennst du ja, Vicky“, ende ich. Enttäuscht sieht sie mich an. „Wieso erzählst du es mir nicht nochmal?“ „Weil ich langsam nach Hause muss. Bis nach London dauert es ein Welchen, das weißt du.“ Seufzend nickt sie. „Ja, ich weiß. Auch ich werde nicht mehr lange hier bleiben, sondern bald einen anderen Ort aufsuchen.“ Ich habe schon so etwas in der Art vermutet, als sie mich zum Abendessen eingeladen hat. Also war das heute so etwas wie ein Abschiedsessen. „Wo möchstest du denn hin?“, frage ich sie. Victoria lächelt verträumt. „Ich möchte in die Kolonien, nach Boston.“ „Wieso so weit weg?“ „Weil dort die Gefahr, entdeckt zu werden, geringer ist als hier.“ Victoria hat Recht. In den Kolonien ist es tatsächlich sicherer als hier in England oder einem anderen eurpäischen Land. Es gibt hier einfach zu viele von uns.
Wir verabschieden uns voneinander. „Du schreibst mir, versprochen?“ „Bleibst du denn noch lange in London, Elizabeth?“ Ich nicke. „Gut. Dann weiß ich ja, wo ich hin schreiben muss.“ Zum Abschied gibt sie mir einen kleinen Kuss auf die Backe. Ich lächle und mache mich auf den Weg zurück nach London. Während ich nach einer Kutsche suche, lasse ich mir noch einmal mal Leben durch den Kopf gehen. Ich führe eigentlich ein sehr menschenähnliches Leben, was nicht unbedingt typisch für uns ist. Die Menschen haben ihre eigenen Legenden und Geschichten über uns. Sie haben Knoblauchzehen in ihren Häusern, weil sie glauben, wir vertragen keinen Knoblauch. Eigentlich tut es uns nichts, doch sein Gestank ist widerlich. Deshalb gehen auch die meisten auf Abstand, wenn sie ihn riechen. Das Einzige, was wirklich hilft, sind Holzpflöcke oder Scheiterhaufen. Doch bis diese zum Einsatz kommen, sind die meisten Menschen schon tot. Sie unterschätzen unsere Fähigkeiten. Zwar haben wir keine magischen Fähigkeiten, wie uns so oft nachgesagt wird, dafür sind wir körperlich recht fit und unglaublich schnell. Das Leben als Vampir hat seine Vorteile – aber auch seine Nachteile. Einerseits bin ich froh, dass mein Meister mich zu dem gemacht hat, was ich bin. Aber andererseits hätte ich auch gut auf viele der Dinge, die ich gesehen und erlebt habe, verzichten können. Ich lebe nun seit fast 400 Jahren unter „den Anderen“ und habe viele Kriege und Hungersnöte und auch Pestepidemien mitgemacht. Oft frage ich mich, was die Zukunft bringen mag. Wir leben nun im Jahre 1813, die Befreiungskriege gegen Napoleon haben gerade begonnen. Was wird wohl noch kommen? Vielleicht erlebe ich ja noch die nächste Jahrhundertwende, ich weiß es nicht. Nur die Zeit wird mir die Antwort bringen können, mir und allen „Anderen“.
"Liebe ist eine tolle Krankheit - da müssen immer gleich zwei ins Bett."
Robert Lembke
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