Selenya
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Nichts.
Das war alles, was sie fühlte. Alles was war. Nichts. Sie erwachte in der Dunkelheit eines Sargs, und trotzdem: nichts. Sie kratzte über Holz, bis es nachgab und Dreck durchbrach, der sie unter sich begrub, und trotzdem: nichts. Sie grub sich einfach ihren Weg nach draußen und erhob sich aus ihrem Grab, wandelte auf der Erde, sah Bäume und Wiesen, spürte Wind und Regen, bemerkte wie ihre Haut begann zu verrotten, und immer noch: nichts. Bis da doch etwas war: ein Bedürfnis. Nicht so sehr in ihrem Geist, der weiter im Nichts verweilte, sondern anderswo, irgendwo tief unten am Grunde ihrer Seele. Ein brennendes Bedürfnis, das sie dazu brachte zu quälen. Zu töten. Seele um Seele folterte sie. Leben um Leben löschte sie aus. Aber nichts davon fühlte die Leere ihres Geists.
Dann, plötzlich, eine Berührung. Ein Ruck. Dicht gefolgt von abgrundtiefem Schmerz. Sie schrie, ihr Geist in Flammen, ihr ganzer Körper wie eine rohe Wunde, die plötzlich aufgerissen worden war. Und doch hieß sie den Schmerz willkommen, denn gleichzeitig fühlte sie sich erlöst. Etwas riss sie fort von diesem schrecklichen Nichts, das ihren Geist umhüllte, von diesem brennenden Bedürfnis, das ihre Seele verschlang, von der Sklaverei, der sie sich unterwerfen musste.
Für einen flüchtigen Moment fühlte sie sich frei.
Dann kam der Wahnsinn. Sie erinnerte sich an wenig aus ihrem alten Leben, aber sie fühlte noch, was sie damals gefühlt hatte. Und zu was sie geworden war, was sie getan hatte, das war so... gegensätzlich zu allem, was sie geglaubt hatte, allem, wofür sie gestanden hatte früher. Sie kam damit nicht zurecht. Und so kam der Wahnsinn.
Aber sie wollte sich nicht der nächsten Form von Sklaverei unterwerfen, selbst wenn es diesmal eine war, die ihr eigener Geist ihr aufdrückte. Sie kämpfte sich durch den Wahnsinn, rang um die Freiheit, die sie bereits gespürt hatte. In diesem Kampf berührte ihr Geist Magie und Welten, die kein gesunder Geist zu berühren vermochte, Schatten wie Fel, und hakte sich dort ein in der Hoffnung, durch sie hindurch einen Weg zurück zu finden. Und schließlich hatte sie Erfolg. Ließ den Wahnsinn zurück, so wie sie das Nichts zurückgelassen hatte, was bedeutete: nicht zur Gänze. Sie konnte beides spüren, wie sie an ihrem Geist zerrten. Die Geißel, die sie zurück wollte. Der Wahnsinn, der hinter Erinnerungen und Teufelsmagie gleichermaßen lauerte. Aber das kümmerte sie nicht. Sie hatte beides hinter sich gelassen, genug, dass sie, zum ersten Mal seit sie aus ihrem Grab gekrochen war, wirklich erwachte.
Mit diesem neuen Bewusstsein kam ein Wunsch. Sie wollte einen Namen. Ihre Zeit als Sklavin der Geißel mochte vorüber sein, aber sie hatte sich angefühlt, als wäre sie endlos. Endlos lange war sie nichts gewesen, ein geistloses Spielzeug. Was dem gefolgt war, war nicht wirklich besser gewesen. Das Nichts war nur ersetzt worden durch einen Wahnsinn, der so gewütet hatte in ihr, dass es erneuter Geistlosigkeit gleichkam. Und die ganze Zeit war sie nur ein namenloses Ding gewesen. Nie wieder, schwor sie sich. Nie wieder. Sie wollte, nein: sie brauchte einen Namen.
Sie erinnerte sich an so gut wie nichts aus ihrem alten, ihrem ersten Leben, und das meiste, an das sie sich erinnerte, vergrub sie tief in sich, damit es sie nicht wieder in den Wahnsinn führen konnte. Aber es gab ein paar Erinnerungen, die schienen harmlos genug... wie dass sie es mochte, wenn etwas einen fließenden Klang hatte. Der Name selbst war unwichtig, gestand sie sich ein. Aber es war wichtig, für sie, dass sie den Klang mochte. Sie würde ihn hören müssen, von jetzt an, jedes Mal wenn sie jemand rief. Würde ihn ertragen müssen.
Woran sie sich ebenfalls erinnerte, war alles was in ihrem zweiten, untoten Leben geschehen war. Alles was mit der Geißel zusammenhing. Alles was sie getan hatte. Und sie erinnerte sich an den Anfang. Wie sie aus ihrem Grab gekrochen war. Wie ihre Augen über den Stein geflogen waren, der es markierte. Sie erinnerte sich exakt daran, wie er ausgesehen hatte und was für Symbole darauf gewesen waren, ohne deren Bedeutung begriffen zu haben. Da war nichts gewesen in ihrem Geist, das es gekonnt hätte. Aber sie erinnerte sich an den Anblick, auch jetzt noch war er da, kristallklar, in ihrem Kopf. Und nun, frei von Geißel und Wahnsinn, verstand sie. Nahm die Buchstaben wahr als das, was sie waren, die verblichenen, teils verschwundenen ganz oben bis hin zu den frisch eingravierten ganz unten. Sie konnte nicht anders als realisieren, was letztere bedeuteten – aber sie entschied sie zu ignorieren. Sie repräsentierten einen Namen, der ihr von jemand anderem gegeben worden war. Vielleicht nicht in dem Sinne gegeben, wie man ein Spielzeug benennen würde... aber nichtsdestotrotz gegeben, ohne dass sie eine Wahl gehabt hätte.
Noch wichtiger war: er war ein Teil ihres alten Lebens. Sie hatte nichts gegen einen Namen, der eine Verbindung zu ihrer Vergangenheit aufwies, im Gegenteil, der Gedanke hatte etwas – aber ihr alter Name, das bedeutete sich an etwas zu klammern, das unwiderruflich vorbei war. Weggescheuert in der Zeit, die sie als Sklavin der Geißel verbracht hatte, Stück für Stück, bis nichts mehr davon übrig gewesen war. Ihr alter Name würde nur als Mahnmal dienen: für das, was sie verloren hatte, denn obwohl sie es nicht zugab, spürte sie diesen Verlust nach wie vor, und für das, was sie hatte ertragen müssen.
Sie wollte einen neuen Namen, einen, den sie selbst erwählte, um zu zeigen, und sei es nur ihr selbst, dass sie niemandes Spielzeug mehr war, und dass sie fertig war damit keine Wahl mehr zu haben. Sie betrachtete die Buchstaben auf dem Grabstein, den sie in ihrem Geist sah, wie sie Namen formten, die zu ihren Vorfahren gehörten. Sie kümmerten sie nicht, aber es schien ihr irgendwie passend sie zu benutzen, um etwas zu schaffen, das ihr gehörte. Sie ließ die Buchstaben auf sich wirken, und nach einiger Zeit kristallisierte sich etwas aus ihnen heraus. Etwas, das floss. Etwas, das ihr gefiel.
Das war ihr neues Leben. Und ihr neuer Name, entschied sie, war Selenya.
Zuletzt bearbeitet am: 24.04.2023 17:02 Uhr.
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